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Es ist Erkenntnis im Material der Farben und Konturen, und je größer [das Kunstwerk] ist, desto mehr nähert es sich der Transparenz des letzten Gedächtnisbildes an, in dem sich die Züge der „Geschichte“ zusammenschließen. – Siegfried Kracauer
Wenn Thomas Helbig in einer früheren Einzelausstellung in der Galerie Guido W. Baudach im Jahr 2020 mit odem-artigen Formgebungen vor einem kosmisch anmutenden Hintergrund an die Grenzen des Darstellbaren in der Malerei gegangen ist, so bewegt er sich mit Anciens Régimes nun in die vermeintlich entgegengesetzte Richtung, die der Figuration. Zu sehen sind unter anderem anonyme Portraits von Menschen in historischer Kleidung, die an das Rokoko erinnert. Gemeinsam ist ihnen ihre offene, uneinheitliche Form: Ein Kopf ist verschoben, passt nicht zum Körper, ein Gesicht ist teilweise verwischt, der Körper dehnt sich mutierend in den Umraum aus oder wird von diesem durchbohrt. In einem weiteren Bild scheint der Leib aus dem Bildgrund heraus ins Licht gezogen zu werden, das Gesicht wird gleichsam zu dessen Verkörperung, zum Gestirn. Nicht umsonst geht der Begriff Porträt auf das lateinische Wort prō-trahere für ‚ans Licht bringen‘ und ‚hervorziehen‘ zurück.
Die Überblendung von Malerischem und Dargestelltem ist bei Helbig umfassend und essentiell. So können die abstrahierten Bildräume, die Helbigs malerisches Werk spätestens seit den Nullerjahren durchziehen, als das uns umgebende Weltall wie als Kosmos der Malerei an sich betrachtet werden, in derer beider Manifestationen ein stetiges Werden und Vergehen inbegriffen ist. Dahingehend lassen sich auch die in Helbigs Bildern immer wieder auftauchenden, oft behandschuhten Hände deuten. Hände stehen sinnbildlich für Schaffenskraft und Herrschaftswillen; denken wir nur an die sich vor dem himmlischen Umraum berührenden Hände von Gott und Mensch in Michelangelos Darstellung der Erschaffung Adams. Zugleich sind es die Hände, die in Werken des Barock, aber auch der Moderne und der Gegenwart andeuten, wie Künstler*innen ihre Arbeit in der Spannung zwischen geistigem Entwurf und konkreter Ausführung reflektieren. Angesichts dieser ikonographischen Engführung von Kopf und Hand ist es bemerkenswert, dass die Hand bei Helbig meist getrennt vom restlichen Körper, wenn nicht sogar als vereinzeltes Element auftaucht. Derart losgelöst, vermag sie ganz in ihrer deiktischen Symbolik aufzugehen. In diesem Sinne verweist die herrschaftsbefreite Hand auf den abstrakten, unendlichen Raum ebenso wie auf das Material der Farben und Konturen, von denen, um mit dem eingangs zitierten Siegfried Kracauer zu sprechen, eine eigene Erkenntnis ausgeht. Laut Kracauer muss für die Darstellung einer überzeitlichen Bedeutung der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, denn: „Auch das Kunstwerk zerfällt in der Zeit; doch aus seinen zerbröckelten Elementen steigt das mit ihm Gemeinte auf[.]“
Wo die selbstständige Hand geradezu harmonisch in den Allraum der Malerei eingeht, drängt sich bei den verschiedenen Körpergliedern, die in Helbigs Wandobjekten anzutreffen sind, der Eindruck einer bewussten Zerstückelung in den Vordergrund. Zwischen barocker und technoider Anmutung breiten sich die dunkel lackierten, mit teils wuchtigen Ornamenten verzierten Assemblagen flügelartig aus. Die plastischen Körperteile wie Bein, Kinderfuß oder Finger – durchweg Fundstücke aus der Spielzeug- und Deko-Welt – sind in diese hinein drapiert. Je nach Stilisierungsgrad wirken sie wie Zierrat oder wie Reliquien eines sinistren Kultes mit Praktiken ähnlich denen, wie sie in Marquis de Sades Erzählung Die 120 Tage von Sodom oder in David Cronenbergs Film Crash auftauchen.
Man könnte versucht sein, die Gemälde und Plastiken von Thomas Helbig als Ausdruck eines dichotomen Weltbildes zwischen Ordnung und Chaos, Gut und Böse aufzufassen. Doch wäre dies nicht nur zu kurz gegriffen, sondern ein Missverständnis, da Helbigs künstlerische Praxis keineswegs mit einer Moral des Entweder/Oder verbunden ist. Statt entsprechenden Vorgaben, sprich: Regimen, zu folgen, sträuben seine Arbeiten sich gegen jegliche Verkürzung ihres Kontextes. Gleichzeitig weisen sie in dem für sie so charakteristischen Amalgam aus formalen wie inhaltlichen Fragmenten der Kunst- und Kulturgeschichte eine ganz eigene Poesie von spezifischer Bildmächtigkeit auf.
– Cora Waschke